Die COVID-19-Pandemie wirkt sich auch auf das Scheidungsrecht aus, namentlich bei der Beurteilung der Erwerbsaussichten.

1. Beurteilung der Erwerbsaussichten im Allgemeinen

Die Frage, von welchem Einkommen eines Ehegatten bei der Berechnung von Unterhaltsbeiträgen auszugehen ist, stellt sich bei einer Trennung und Scheidung immer wieder. Dabei gilt: Grundsätzlich ist vom tatsächlich erzielten Einkommen der Ehegatten auszugehen. Allerdings kann einem Ehegatten unter bestimmten Umständen auch ein höheres als das tatsächlich erzielte Einkommen angerechnet werden. Die Anrechnung eines sogenannten hypothetischen Einkommens rechtfertigt sich namentlich dann, wenn es ein Ehegatte unterlässt, ein ihm angemessenes Einkommen zu erzielen, obwohl ihm dies zumutbar und möglich wäre.

2. Erwerbsaussichten und COVID-19-Pandemie

Ein Ehemann hat kürzlich beim Bundesgericht geltend gemacht, seine Erwerbsaussichten seien wegen der COVID-19-Pandemie eingeschränkt. Konkret hat er beanstandet, es sei ihm aufgrund der ausserordentlichen Situation wegen der COVID-19-Pandemie nicht möglich, das ihm angerechnete höhere hypothetische Einkommen tatsächlich zu erzielen. Man dürfe bei der Unterhaltsberechnung daher nur sein tieferes, tatsächliches Einkommen berücksichtigen. Der Ehemann bemängelte beim Bundesgericht, das kantonale Gericht hätte die Folgen der COVID-19-Pandemie von sich aus berücksichtigen müssen, auch wenn er diese nicht explizit geltend gemacht hatte.

3. Was sagt das Bundesgericht dazu?

Das Bundesgericht hielt dazu fest, dass sich das wirtschaftliche Umfeld nach dem Auftreten von COVID-19 tatsächlich verschlechtert habe, was allgemein bekannt sei. Die allgemeine Lage in der Schweiz nach dem Auftreten von COVID-19 und die generellen Folgen der in diesem Zusammenhang ergriffenen Massnahmen würden insofern als offenkundig bzw. als sogenannt «gerichtsnotorisch» gelten. Die individuelle Situation jedes Einzelnen, die sich daraus ergebe, sei jedoch für ein Gericht nicht offenkundig bzw. eben nicht «gerichtsnotorisch. Das Bundesgericht verweist darauf, dass nicht alle Wirtschaftszweige durch die Pandemie gleich stark oder auf die gleiche Art betroffen seien. Ein Hinweis auf die ausserordentliche Situation genüge deshalb nicht als Nachweis dafür, dass ein als zumutbar erachtetes hypothetisches Einkommen nicht mehr oder nur erschwert erzielt werden könne. Das Bundesgericht wies die Beschwerde des Ehemannes daher (auch) in diesem Punkt ab.

BGer 5A_467/2020 vom 7.9.2020

Dr. Mattias Dolder