1. Worum geht es?
Das Bundesgericht hat in letzter Zeit einige Leitentscheide zum Unterhaltsrecht gefällt, die auch in den Medien viel Beachtung erhalten haben. Die Wortwahl, mit denen die Urteile kommentiert worden sind, war teils kaum mehr zu überbieten und reichte bis hin zu Vergleichen mit einem «Tsnuami». Doch um was geht es eigentlich?
Was ist mit der neuen bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Unterhaltsrecht konkret gemeint? Konkret geht es um fünf jüngere Urteile des Bundesgerichts, nämlich um die folgenden:
- BGer 5A_907/2018 vom 3. November 2020 («Lebensprägung»)
- BGer 5A_311/2019 vom 11. November 2020 (einheitliches Vorgehen beim Kindesunterhalt)
- BGer 5A_891/2018 vom 2. Februar 2021 (einheitliches Vorgehen beim Scheidungsunterhalt)
- BGer 5A_104/2018 vom 2. Februar 2021 (Aufhebung «45er-Regel»)
- BGer 5A_800/2019 vom 9. Februar 2021 (einheitliches Vorgehen beim Trennungsunterhalt)
Deren Kernaussagen sind vielschichtiger, als dass sie sich in kurzen Schlagwörtern zusammenfassen liessen:
Wir analysieren die verschiedenen Urteile der Reihe nach. Den Anfang macht das Urteil BGer 5A_907/2018 vom 3. November 2020. Es setzt sich mit der Frage der «Lebensprägung» auseinander, einem zentralen Begriff im Unterhaltsrecht.
2. Urteil BGer 5A_907/2018 vom 3. November 2020 («Lebensprägung»)
2.1 Das Urteil befasst sich mit dem Begriff der Lebensprägung und ihrer Bedeutung in Bezug auf den nachehelichen Unterhalt.
Das Bundesgericht verweist zunächst auf seine bisherige Rechtsprechung, wonach die Frage, ob die Ehe lebensprägend war oder nicht, als Ausgangspunkt für die Festlegung des gebührenden Unterhalts im Sinne von Art. 125 Abs. 1 ZGB dient (Erw. 3.4.1).
- Bei zehn Jahre oder länger dauernden Ehen oder bei gemeinsamen Kindern bejaht die bisherige Rechtsprechung vermutungsweise eine Lebensprägung. Bei diesen lebensprägenden Ehen gilt, dass das Vertrauen in den Fortbestand der Ehe bzw. in den Weiterbestand der bisherigen, frei vereinbarten Aufgabenteilung objektiv schutzwürdig ist und Art. 125 Abs. 1 ZGB deshalb bei genügenden Mitteln Anspruch auf Fortführung des zuletzt gelebten gemeinsamen Standards bzw. bei zufolge scheidungsbedingter Mehrkosten ungenügender Mittel Anspruch auf beidseits gleiche Lebenshaltung gibt (positives Interesse bzw. «Scheidungsschaden»).
- Bei Ehen von weniger als fünf Jahren Dauer bzw. bei sogenannten Kurzehen, aus denen keine gemeinsamen Kinder hervorgegangenen sind, verneint die bisherige Rechtsprechung eine Lebensprägung und damit ein schutzwürdiges Vertrauen auf die Fortführung der Ehe regelmässig. Der berechtigte Ehegatte ist mithin so zu stellen, wie wenn die Ehe nicht geschlossen worden wäre (negatives Interesse, «Heiratsschaden»).
Auch deshalb ist die Lehre bislang davon ausgegangen, dass der Unterscheidung in lebensprägende und nicht lebensprägende Ehen quasi eine «Triagefunktion» in Bezug auf den nachehelichen Unterhalt zukommt. Das Bundesgericht stellt nun aber klar, dass dies «in dieser absoluten Form nie die Meinung des Bundesgerichts» gewesen sei (Erw. 3.4.2). Die Unterscheidung in lebensprägende und nicht lebensprägende Ehen dürfe nicht wie ein «Kippschalter» für (einen prinzipiell dauerhaften) oder gegen einen (allenfalls nur ganz kurzen) nachehelichen Unterhalt wirken. Das Bundesgericht sieht neu ein Vorgehen auf drei Ebenen vor:
2.2 Erste Ebene: Kritische, einzelfallbezogene Prüfung der Frage der Lebensprägung (Erw. 3.4.3)
Das Bundesgericht nimmt hier auf die Kritik in der juristischen Lehre Bezug, in welcher von einer «Unterhaltsknechtschaft» und der «Abwälzung des Lebensrisikos auf den früheren Partner» die Rede war.
Das Bundesgericht hält fest: «Jedenfalls kann die Sichtweise, dass der gebührende Unterhalt sich am ehelichen Status ausrichten soll, nur dort gerechtfertigt sein, wo der eine Ehegatte aufgrund eines gemeinsamen Lebensplanes sein Erwerbsleben und damit seine ökonomische Selbständigkeit zugunsten der Besorgung des Haushaltes und der Erziehung der Kinder aufgegeben hat und es ihm […] nicht mehr möglich ist, an seiner früheren beruflichen Stellung anzuknüpfen oder einer anderen Erwerbstätigkeit nachzugehen, welche ähnlichen ökonomischen Erfolg verspricht.» (Erw. 3.4.3)
Ob an der bisherigen Regel, wonach vermutungsweise Ehen ab zehn Jahren lebensprägend und solche unter fünf Jahren nicht lebensprägend seien, festzuhalten ist, liess das Bundesgericht ausdrücklich offen.
2.3 Zweite Ebene: Primat der Eigenversorgung: Auch eine lebensprägende Ehe führt nicht automatisch zu einem Anspruch auf nachehelichen Unterhalt (Erw. 3.4.4)
Auf der zweiten Ebene ist zu beachten, dass auch eine lebensprägende Ehe «nicht automatisch zu einem Anspruch auf nachehelichen Unterhalt führt.» (Erw. 3.4.4). Das Bundesgericht hält fest: «Ab dem Zeitpunkt der Scheidung – gemäss Rechtsprechung sogar ab dem Trennungszeitpunkt, wenn keine vernünftige Aussicht auf Wiederaufnahme des Ehelebens mehr besteht (BGE 130 III 537 E. 3.2 S. 542; 137 III 385 E. 3.1 S. 386 f.; 138 III 97 E. 2.2 S. 99) – gilt nach dem klaren Wortlaut von Art. 125 Abs. 1 ZGB das Primat der Eigenversorgung und damit grundsätzlich eine Obliegenheit zur (Wieder-)Eingliederung in den Arbeitsprozess bzw. zur Ausdehnung einer bestehenden Tätigkeit. Ein Unterhaltsanspruch besteht nur subsidiär.
Bei der Eigenversorgungskapazität ist (1) die Zumutbarkeit (als sogenannte Rechtsfrage) und (2) die tatsächlichen Möglichkeiten (als sogenannte Tatfrage) zu prüfen.
- (1) Zumutbarkeit (Rechtsfrage)
Bereits bisher hat das Bundesgericht vom unterhaltsverpflichteten Ehegatten verlangt, dass er seine Erwerbskraft vollumfänglich auszuschöpfen hat, wenn dies zur Finanzierung von familienrechtlichen Unterhaltsleistungen erforderlich ist; andernfalls wurde ihm ein hypothetisches Einkommen angerechnet. Nun gilt ausdrücklich derselbe Massstab für den potentiell anspruchsberechtigten Ehegatten, welcher sämtliche Möglichkeiten auszuschöpfen hat, um sich wieder in das Berufsleben einzugliedern bzw. um eine bestehende Erwerbstätigkeit auszudehnen. «Vom Grundsatz, wonach ein Vollzeiterwerb als zumutbar gilt, ist nur abzuweichen, soweit der betreffende Teil gemeinsame Kinder betreut, denn hier bemisst sich die Zumutbarkeit einer Erwerbstätigkeit nach Massgabe des Schulstufenmodells (dazu im Einzelnen BGE 144 III 481 E. 4.7.6–4.7.8 S. 497 ff.).» (Erw. 3.4.4).
- (2) Tatsächliche Möglichkeit (Tatfrage)
Bei der Frage nach der tatsächlichen Möglichkeit einer an sich zumutbaren Aufnahme bzw. Ausdehnung einer Erwerbstätigkeit ist gemäss Bundesgericht auf das Alter, die körperliche Gesundheit, die sprachlichen Kenntnisse, die bisherigen Tätigkeiten, die bisherigen und zumutbaren Aus- und Weiterbildungen, die persönliche Flexibilität, die Lage auf dem Arbeitsmarkt usw. abzustellen. Allgemein gesprochen geht es um die konkreten Chancen im Einzelfall, in einem bestimmten Bereich, welcher nicht dem früheren Tätigkeitsfeld entsprechen muss, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.
2.4 Dritte Ebene: (Erw. 3.4.5): Reicht die Eigenversorgung nicht, um den gebührenden Unterhalt zu decken, besteht bei lebensprägenden Ehen ein Anspruch auf angemessenen Unterhalt.
Was bedeutet «angemessen? Das Bundesgericht verweist hierfür auf die Kriterien von Art. 125 Abs. 2 ZGB. Ins Gewicht fallen eine allfällige Erwerbshinderung durch Kinderbetreuung sowie die Ehedauer, ferner aber auch das Vermögen und anderweitige finanzielle Absicherungen. Ausdrücklich erwähnt das Bundesgericht, dass der Unterhalt «insbesondere in zeitlicher Hinsicht zu limitieren» sei, zumal mit der Auflösung des gemeinsamen Haushaltes die (auf Art. 163 ZGB basierende) eheliche Aufgabenteilung faktisch ihr Ende finde und, wenn keine gemeinsamen Kinder zu betreuen sind, der finanziellen Unterhaltsleistung des einen Ehepartners keine Gegenleistung des anderen in Form von Naturalunterhalt mehr gegenüberstehe. Und weiter heisst es: «Vor diesem Hintergrund kann es keinen Anspruch auf lebenslängliche finanzielle Gleichstellung geben, ansonsten ökonomisch über die Tatsache der Scheidung hinweggegangen würde (BGE 134 III 145 E. 4 S. 146).» (Erw. 3.4.5). Jedoch gilt: «Bei langjähriger Hausgattenehen, zumal wenn sich der eine Ehegatte vollständig der Kinderbetreuung gewidmet hat, kann die nacheheliche Solidarität auch in Zukunft zu längeren Unterhaltsrenten führen, welche bis zum Erreichen des AHV-Alters des Leistungspflichtigen andauern können (vgl. zu dieser Begrenzung BGE 132 III 593 E. 7.2 S. 596; 141 III 465 E. 3.2.1 S. 469).» (Erw. 3.4.5).