Schweizweit einheitliche Regeln zur Berechnung beim Scheidungsunterhalt und beim Trennungsunterhalt (BGer 5A_891/2018, BGer 5A_104/2018, BGer 5A_800/2019), Aufhebung „45er-Regel“

Im dritten Teil unserer Blog-Serie (zu Teil 1: „Lebensprägung“zu Teil 2: einheitliche Berechnung des Kindesunterhalts) zur neuen bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Unterhaltsrecht geht es um die vom Bundesgericht vorgenommene Vereinheitlichung der Berechnung des ehelichen Unterhalts („Trennungsunterhalt„) und des nachehelichen Unterhalts („Scheidungsunterhalt„). Im Rahmen dieser Rechtsprechung hat das Bundesgericht auch seine sogenannte „45er-Regel“ formell aufgehoben.

Konkret geht es um folgende Urteile des Schweizerischen Bundesgerichts, welche wir nachfolgend zusammenfassen:

1. BGer 5A_891/2018 vom 2. Februar 2021 (einheitliches Vorgehen beim Scheidungsunterhalt)

Im vorliegenden Verfahren war die sachgerechte Methode zur Berechnung des nachehelichen Unterhalts strittig. Das Bundesgericht hält fest, dass das Gesetz keine Berechnungsmethode vorschreibe. In der Praxis würden jedoch entweder die einstufig-konkrete oder die zweistufige Methode mit Überschussverteilung angewandt (Erw. 4.1). Es wägt alsdann die verschiedenen Methoden gegeneinander ab und hält fest, dass in der Praxis die einstufige Methode primär bei deutlich überdurchschnittlichen Verhältnissen sowie bei hohen Sparquoten bevorzugt wird. (Erw. 4.5).

Das Bundesgericht legt sich sodann auf die zweistufige Methode mit Überschussverteilung fest, welche inskünftig einheitlich zur Berechnung sämtlicher Arten von Unterhalt verwendet werden solle. Zur Begründung verweist das Bundesgericht unter anderem auf den universellen Charakter der zweistufigen Methode, welche sich auf viele Konstellationen anwenden lasse, sowie auf den Umstand, dass bei dieser Methode das «Beweisverfahren schlanker ausfällt» (Erw. 4.5). Ausnahmen bleiben aber weiterhin ausdrücklich möglich:

«Aufgrund des Gesagten ist im Bereich des nachehelichen Unterhaltes schweizweit verbindlich nach der zweistufig-konkreten Methode vorzugehen, soweit nicht ausnahmsweise eine Situation vorliegt, bei welcher diese schlicht keinen Sinn macht, wie dies insbesondere bei aussergewöhnlich günstigen finanziellen Verhältnissen der Fall sein kann; dabei ist im Unterhaltsentscheid stets zu begründen, aus welchen Gründen ausnahmsweise nicht die als Regel vorgegebene Methodik angewandt werden soll (vgl. Urteil 5A_311/2019 vom 11. November 2020 E. 6.6).»

Das Bundesgericht hält sodann weitere Grundsätze fest (Erw. 4.4):

  • Bisher gelebter Lebensstandard als Obergrenze des gebührenden Unterhalts:

«Sowohl beim ehelichen als auch beim nachehelichen Unterhalt bildet die bisherige Lebensführung den Ausgangspunkt für die Bestimmung des gebührenden Unterhaltes beider Ehegatten: Beim ehelichen Unterhalt darf es nicht zur Vorwegnahme der güterrechtlichen Auseinandersetzung kommen, indem über die bisherige Lebenshaltung hinaus einfach das Gesamteinkommen hälftig geteilt würde (BGE 114 II 26 E. 8 S. 31 f.; 115 II 424 E. 3 S. 426; 121 I 97 E. 3b S. 100 f.; Urteil 5A_904/2015 vom 29. September 2016 E. 5.1, nicht publ. in BGE 142 III 617). Umso mehr muss sich der nacheheliche (Verbrauchs-)Unterhalt darauf beschränken, die Aufrechterhaltung des zuletzt gemeinsam gelebten Standards zu ermöglichen, auf dessen Fortführung bei genügenden Mitteln beide Teile Anspruch haben; gleichzeitig bildet der betreffende Standard aber auch die Obergrenze des gebührenden Unterhalts. Verunmöglichen scheidungsbedingte Mehrkosten es, den früheren Lebensstandard aufrechtzuerhalten, so hat der Unterhaltsgläubiger Anrecht auf die gleiche Lebenshaltung wie der Unterhaltsschuldner (vgl. BGE 132 III 593 E. 3.2 S. 594 f.; 134 III 145 E. 4 S. 146; 137 III 102 E. 4.2.1.1; 141 III 465 E. 3.1 S. 468)»

  • Unterschiede zwischen ehelichem und nachehelichen Unterhalt

«Die Unterschiede zwischen dem ehelichen und nachehelichen Unterhalt bestehen im Wesentlichen darin, dass Letzterer nicht nur den Verbrauchs-, sondern gegebenenfalls auch Vorsorgeunterhalt umfasst, dass andererseits aber mit der Scheidung die Eigenversorgung und damit die Pflicht zur Generierung eigenen Einkommens noch stärker in den Vordergrund rückt.»

  • Nacheheliche Solidarität. Zeitliche und quantitative Limitierung

«Mit der Scheidung endet nämlich die eheliche Unterhaltspflicht gemäss Art. 163 ZGB; es bestehen einzig noch Nachwirkungen der Ehe aufgrund „nachehelicher Solidarität“, soweit die Eigenversorgung nicht oder nicht vollständig besteht oder hergestellt werden kann (BGE 127 III 289 E. 2a/aa S. 291; 132 III 593 E. 7.2 S. 596; 134 III 145 E. 4 S. 146; 137 III 102 E. 4.2.3.1 S. 111; 141 III 465 E. 3.1 S. 469). Was diesbezüglich „angemessen“ im Sinn von Art. 125 Abs. 1 ZGB ist, bestimmt sich nach den in Art. 125Abs. 2 ZGB aufgelisteten Kriterien, wobei der nacheheliche Unterhaltsanspruch nicht nur in quantitativer, sondern namentlich auch in zeitlicher Hinsicht limitiert ist (Botschaft zum Scheidungsrecht, BBl 1996 I 45); es besteht kein Anspruch auf lebenslängliche Gleichstellung, weil über die Tatsache der Scheidung nicht einfach ökonomisch hinweggegangen werden darf (BGE 134 III 145 E. 4 S. 146).»

  • Wenn Mehrarbeit nach Trennung zu mehr Überschuss führt

Nimmt ein Ehegatte nach der Aufhebung des gemeinsamen Haushalts eine Erwerbstätigkeit auf oder arbeitet er mehr, so kann der darauf zurückzuführende Überschuss (-anteil) nicht nach den üblichen Teilungsgrundsätzen (hälftige Teilung bzw. Teilung nach grossen und kleinen Köpfen) aufgeteilt werden. Denn: Der zuletzt gemeinsam gelebte Standard bildet stets die Obergrenze des gebührenden Unterhalts. Gemäss Bundesgericht bedarf es deshalb einer zweiten Rechnung, mit welcher zu ermitteln ist, wie hoch der Überschuss während des Zusammenlebens war. «Die Obergrenze des nachehelichen (Verbrauchs-)Unterhalts entspricht mithin dem familienrechtlichen Existenzminimum bei Getrenntleben zuzüglich des betragsmässig unveränderten Anteils am früheren gemeinsamen Überschuss. Zu beachten ist ferner, dass diese Limitierung nur zwischen den Ehegatten gilt, während Kinder am insgesamt höheren Lebensstandard teilhaben sollen.» Der bisher gelebte eheliche Standard bildet in jedem Fall «das Maximum dessen, was nachehelich noch gebührend sein kann.»

  • Sparquote

«Soweit eine Sparquote nachgewiesen ist – und diese nicht durch scheidungsbedingte Mehrkosten, welche nicht durch einen zumutbaren Ausbau der Eigenversorgung aufgefangen werden können, aufgebraucht wird […] – muss dies bei der Verteilung des Überschusses berücksichtigt werden.»

  • Einzelfallgerechtigkeit

Im Rahmen der Überschussverteilung sind sodann auch alle weiteren Besonderheiten des Einzelfalles, welche ein Abwichen von den üblichen Teilungsgrundsätzen rechtfertigen, zu berücksichtigen und im Unterhaltsentscheid zu begründen (siehe dazu Urteil 5A_311/2019 vom 11. November 2020 E. 7.3).

2. BGer 5A_104/2018 vom 2. Februar 2021 (Aufhebung «45er-Regel»)

Das Bundesgericht erinnert in Erw. 4 daran, wie schrittweise bei lebensprägenden Ehen der nacheheliche Unterhalt zu beurteilen ist, nämlich in drei Schritten:

  1. Schritt: Ermittlung des gebührenden Unterhalts anhand des zuletzt gemeinsam gelebten Standards
  2. Schritt: Beurteilung der Eigenversorgungskapazität, d.h. Zumutbarkeit und Möglichkeit zur Bestreitung des gebührenden Unterhalts aus eigener Kraft
  3. Schritt: Deckung einer allfälligen Differenz zwischen gebührendem Unterhalt und Eigenversorgungskapazität mittels eines angemessenen Unterhaltsbeitrages

Sodann weist das Bundesgericht in Erw. 5.2 auf das Primat der Eigenversorgung und die Obliegenheit zur Aufnahme bzw. Ausweitung einer Erwerbstätigkeit hin, welche – sofern keine vernünftige Aussicht auf Wiederaufnahme des Ehelebens besteht – bereits ab Trennungszeitpunkt besteht und sich ab dem Zeitpunkt der Scheidung in besonderer Weise aktualisiert: «Der Zuspruch eines Unterhaltsbeitrages ist subsidiär zur Eigenversorgung und nur geschuldet, soweit der gebührende Unterhalt bei zumutbarer Anstrengung nicht oder nicht vollständig durch Eigenleistung gedeckt werden kann (BGE 134 III 145 E. 4 S. 146 f.; 141 III 465 E. 3.1 S. 468 f.; zur Publ. bestimmtes Urteil 5A_907/2018 vom 3. November 2020 E. 3.4.4).»

Das Bundesgericht setzt sich sodann ausführlich mit der sogenannten «45er-Regel» auseinander. Diese besagt(e), dass einem Ehegatten die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht mehr zuzumuten ist, wenn er während der Ehe nicht berufstätig war und im Zeitpunkt der Aufhebung des gemeinsamen Haushaltes beziehungsweise bei der Scheidung das 45. Altersjahr bereits erreicht hatte.

Das Bundesgericht hält fest, dass mit der Scheidung bzw. an sich schon mit der Trennung eine Zäsur eintreten, indem die «Besorgung des gemeinsamen Haushaltes und damit die entsprechende Unterhaltsleistung an die Gemeinschaft wegfällt und insofern der Ehegatte, welcher diese bisher erbracht hat, im betreffenden Umfang frei wird und somit (bei gegebener tatsächlicher Möglichkeit) für seinen eigenen Unterhalt sorgen kann.» (Erw. 5.4). Aus früheren Urteilen wiederholt das Bundesgericht, wonach sich mit der Scheidung bzw. mit der Trennung die tatsächlichen Lebensverhältnisse ändern und sich ein Ehegatte nicht einfach auf die frühere Rollenteilung berufen könne.

Das Bundesgericht kommt schliesslich zum Schluss, die «45er-Regel» formell aufzugeben (Erw. 5.5). Für die Praxis, jedenfalls jene in der Ostschweiz, war diese Regel aber ohnehin seit längerem bereits nicht mehr bestimmend. Das Bundesgericht hält fest, ob und wie schnell ein (Wieder-) Einstieg ins Erwerbsleben verlangt werden könne, hänge von einer konkreten Prüfung im Einzelfall ab, wobei es als Kriterien das Alter, die Gesundheit, sprachliche Kenntnisse, bisherige und künftige Aus- und Weiterbildungen, bisherige Tätigkeiten, persönliche und geografische Flexibilität, Lage auf dem Arbeitsmarkt, u.ä.m.).

Zur Frage der rechtlichen Zumutbarkeit und der tatsächlichen Möglichkeit der Aufnahme bzw. Ausweitung einer Erwerbstätigkeit hält das Bundesgericht in Erw. 5.6 fest: «Soweit in tatsächlicher Hinsicht die Aufnahme einer Erwerbsarbeit möglich ist, besteht der Grundsatz, dass diese auch zumutbar und unter dem Titel der Eigenversorgung ein entsprechendes (hypothetisches) Einkommen an den gebührenden Unterhalt anzurechnen ist (dazu E. 5.4). Von diesem Grundsatz kann aber in begründeten Einzelfällen ausnahmsweise abgewichen werden, beispielsweise bei einem nahe am Pensionsalter stehenden Ehegatten. Eine Unzumutbarkeit – insbesondere zur Aufnahme nicht „standesgemässer“ Erwerbsarbeiten – lässt sich auch dort begründen, wo die Ehe aufgrund verschiedener Faktoren das Leben eines Ehegatten in entscheidender Weise geprägt hat, indem er auf die (Weiter-)Verfolgung einer eigenen Karriere verzichtet, sich stattdessen aufgrund eines gemeinsamen Entschlusses dem Haushalt und der Erziehung der Kinder gewidmet und dem anderen Ehegatten während Jahrzehnten den Rücken freigehalten hat, so dass dieser sich ungeteilt dem beruflichen Fortkommen und der damit verbundenen Steigerung seines Einkommens widmen konnte und sich mit diesem ohne Weiteres auch zwei Haushalte finanzieren lassen; eine „Lebensprägung“ im Sinn der bisherigen Rechtsprechung reicht für ein Abweichen vom Grundsatz allerdings nicht.»

3. BGer 5A_800/2019 vom 9.2.2021 (einheitliches Vorgehen Trennungsunterhalt)

Das Urteil betrifft ein Eheschutzverfahren, mithin also die Regelung des ehelichen Getrenntlebens und den ehelichen Unterhalt. Auch für diesen gilt – wie im gesamten Unterhaltsbereich – der Grundsatz, dass der Unterhalt anhand der sogenannten zweistufigen Methode mit Überschussverteilung zu beurteilen ist (Erw. 4.3). Das Bundesgericht hält allerdings fest, dass in besonderen Situationen, namentlich bei aussergewöhnlich günstigen finanziellen Verhältnissen, von diesem Grundsatz abgewichen und anders vorgegangen werden könne.

Das Bundesgericht streicht sodann nochmals den generellen Vorrang der Eigenversorgung gegenüber dem Unterhaltsanspruch hervor (Erw. 6.2): «Im Rahmen der Scheidung gilt der Vorrang der Eigenversorgung, wonach jeder Ehegatte vorab selbst für seinen Unterhalt aufzukommen hat – wobei die Tatsache allein, dass ein Ehegatte während der Ehe nicht erwerbstätig war, ihn nicht von dieser Obliegenheit entbindet (Urteil 5A_243/2007 vom 28. Januar 2008 E. 9) – und nur subsidiär, wo dies nicht oder nicht umfassend möglich und zumutbar ist, den anderen Ehegatten bei gegebener Leistungsfähigkeit eine zeitlich begrenzte Unterhaltspflicht aufgrund nachehelicher Solidarität trifft (Art. 125 Abs. 1 ZGB; BGE 134 III 145 E. 4 S. 146 f.; 141 III 465 E. 3.1 S. 468 f.).

Diese Grundsätze, wie sie bei einer Scheidung gelten, sind auch für das Eheschutzverfahren bzw. den ehelichen Unterhalt bedeutsam: «Ist in tatsächlicher Hinsicht erstellt, dass mit einer Wiederaufnahme des gemeinsamen Haushaltes nicht mehr ernsthaft gerechnet werden kann, hat das Eheschutzgericht im Rahmen von Art. 163 ZGB die für den nachehelichen Unterhalt geltenden Kriterien von Art. 125 ZGB miteinzubeziehen und aufgrund der neuen Lebensverhältnisse zu prüfen, ob und in welchem Umfang vom Ehegatten, der bisher den gemeinsamen Haushalt geführt hat, davon aber nach dessen Aufhebung entlastet ist, erwartet werden kann, dass er seine Arbeitskraft anderweitig einsetze und eine Erwerbstätigkeit aufnehme oder ausdehne (vgl. BGE 130 III 537 E. 3.2 S. 541 f.; 137 III 385 E. 3.1 S. 386 f.; 138 III 97 E. 2.2 S. 99). Dass eine vorhandene Arbeitskapazität auszuschöpfen ist, entspricht denn auch einem allgemeinen Grundsatz im Unterhaltsrecht (vgl. BGE 128 III 4 E. 4a S. 5; 137 III 118 E. 2.3 S. 121; 143 III 233 E. 3.2 S. 235).» (Erw. 6.2).

 

Dr. Mattias Dolder, Fachanwalt SAV Familienrecht